Marc Schallmeyer

Digitales Marketing

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Wachstum braucht Struktur, nicht mehr Aktivität

Lange Zeit folgte Wachstum einer klaren Logik: Marketing erzeugt Nachfrage, Vertrieb verwandelt sie in Umsatz. Wenn Ergebnisse ausblieben, wurde an den Stellschrauben gedreht – neue Kampagnen, präzisere Zielgruppen, zusätzliche Systeme, veränderte Incentives. Das war erfolgreich in einer Welt überschaubarer Märkte, linearer Kaufprozesse und klarer organisatorischer Zuständigkeiten.

 

—— Diese Welt ist verschwunden. ——

 

Heute zeigt sich in immer mehr Unternehmen ein paradoxes Bild. Es mangelt weder an Aktivität noch an Daten, weder an Engagement noch an technischer Ausstattung. Und doch werden Umsatzziele verfehlt, Forecasts regelmäßig korrigiert und Wachstum zunehmend erklärungsbedürftig. Die Ursache liegt dabei selten im Markt. Sie liegt in der Struktur, mit der Organisationen versuchen, Markt zu bearbeiten.

 

Marketing und Sales agieren weiterhin als getrennte Funktionen mit eigenen Zielsystemen, eigenen Kennzahlen und eigener Logik. Marketing optimiert Reichweite, Interaktionen und Leads. Vertrieb optimiert Abschlussquoten, Pipeline und Zielerreichung. Beide Seiten handeln rational innerhalb ihrer jeweiligen Systeme – und erzeugen dennoch kein integriertes Ganzes. Die Brüche entstehen nicht aus mangelnder Zusammenarbeit, sondern aus einem Modell, das Zusammenarbeit erschwert.

 

Besonders sichtbar wird dies an der nach wie vor verbreiteten Vorstellung einer „sauberen“ Übergabe zwischen Marketing und Vertrieb. Ein definierter Punkt im Funnel, an dem Verantwortung wechselt. In der Realität komplexer Kaufprozesse existiert dieser Punkt nicht. Entscheidungen entstehen nicht sequenziell, sondern fragmentiert. Kunden bewegen sich vor und zurück, vergleichen, pausieren, wechseln Kanäle und Ansprechpartner. Sie handeln nicht entlang interner Zuständigkeiten, sondern entlang ihrer eigenen Logik. Eine Organisation, die diesen Prozess in funktionale Abschnitte zerlegt, produziert zwangsläufig Reibung.

 

Die Reaktion auf diese Reibung war über Jahre eine massive Ausweitung datenbasierter Steuerung. Mehr Transparenz, mehr Kennzahlen, mehr Dashboards. Die Hoffnung: Wenn nur genug gemessen wird, lösen sich Abstimmungsprobleme von selbst. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten. Marketing- und Sales-Organisationen verfügen heute über eine Vielzahl korrekt erhobener Kennzahlen, die jeweils innerhalb ihrer Funktion Sinn ergeben, aber nicht miteinander kompatibel sind. Sie beschreiben Zustände, ohne Entscheidungen zu ermöglichen. Sie schaffen Wissen, aber keine Steuerung.

 

Umsatz wird so zum Ergebnis vieler lokaler Optimierungen, nicht eines kohärenten Systems. Der Funnel suggeriert Kontrolle, wo in Wahrheit Zufälligkeit herrscht. Incentives belohnen Teilziele, Forecasts beruhigen statt zu steuern, Verantwortlichkeiten bleiben diffus. In solchen Strukturen ist es rational, Risiken zu vermeiden und Verantwortung weiterzureichen. Umsatz entsteht trotzdem – aber nicht reproduzierbar, nicht skalierbar, nicht verlässlich.

 

An dieser Stelle wird deutlich, dass Umsatz kein Ergebnis einzelner Maßnahmen ist, sondern eine organisationale Leistung. Er entsteht aus dem Zusammenspiel von Marktverständnis, Entscheidungsstrukturen, Governance und operativer Umsetzung. Wo dieses Zusammenspiel nicht gestaltet ist, helfen weder bessere Kampagnen noch motiviertere Vertriebsteams. Das Problem ist kein Leistungsproblem, sondern ein Strukturproblem.

 

Viele Unternehmen versuchen, diese Erkenntnis mit Go-to-Market-Initiativen zu adressieren. Workshops, Reorganisationen, neue Rollenbezeichnungen. Doch solange Go-to-Market als Projekt behandelt wird, bleibt die Wirkung begrenzt. Go-to-Market ist kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Betriebsmodell, das dauerhaft trägt. Es beantwortet nicht nur die Frage, wie Nachfrage erzeugt wird, sondern auch, wer entscheidet, auf welcher Basis, mit welchen Informationen und mit welcher Verantwortung.

 

Genau hier liegt in vielen Organisationen eine Leerstelle. Zwischen strategischer Ambition und operativer Ausführung fehlt die Ebene, die beides verbindet. Diese Ebene ist weder klassisches Marketingmanagement noch klassische Vertriebsführung. Sie ist strukturell. Sie zwingt dazu, Fragen nach Ownership, Entscheidungsrechten, Datenlogik und Zielkonflikten explizit zu beantworten. Und sie ist unbequem, weil sie sichtbar macht, dass viele Probleme nicht durch mehr Aktivität, sondern nur durch klare Entscheidungen lösbar sind.

 

Die zunehmende Automatisierung und der Einsatz künstlicher Intelligenz verschärfen diese Situation zusätzlich. Technologien beschleunigen Prozesse, aber sie ersetzen keine Struktur. Im Gegenteil: Sie skalieren bestehende Dysfunktionen. Automatisierte Lead-Generierung verstärkt schlechte Übergaben. KI-gestützte Prognosen verfestigen falsche Annahmen. Personalisierung ohne organisatorische Klarheit untergräbt Vertrauen, statt es aufzubauen.

Wer Marketing, Sales und Daten weiterhin als getrennte Disziplinen behandelt, erhöht nicht die Effizienz, sondern das Risiko. Wachstum wird dann zur Frage von Glück und Timing, nicht von Steuerungsfähigkeit. Die unbequeme Schlussfolgerung lautet daher: Umsatzverluste sind heute selten das Ergebnis falscher Maßnahmen. Sie sind das Ergebnis fehlender Integration – nicht zwischen Systemen, sondern zwischen Verantwortungen.

 

Organisationen, die wachsen wollen, müssen sich von der Vorstellung lösen, dass Marketing und Vertrieb getrennt optimiert werden können. Sie müssen Go-to-Market als zusammenhängendes System denken, mit klarer Architektur, klarer Governance und klarer Entscheidungslogik. Architektur entscheidet, was möglich ist – lange bevor die erste Kampagne gestartet oder der erste Vertriebsanruf geführt wird.